Einmalhandschuhe, Bettpfanne, Hebelifter – diese Dinge gehören zum Alltag von Lucia Artner. Die Wissenschaftlerin vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim untersucht, welche Bedeutung Objekte im Pflegealltag einnehmen. Um dies herauszufinden, geht die Kulturanthropologin in Pflegeheime und auf Krankenstationen und beobachtet: Was passiert mit diesen Dingen, wer nutzt sie wie?
„Ein Pflegeheim ist nicht nur ein Ort der Pflege, sondern auch Wohnraum und Ort des Lebens“, sagt Lucia Artner, die mit Pflegekräften und älteren Damen und Herren über die Dinge in ihrem Alltag spricht. Dabei fallen die vielen Utensilien in den Einzelzimmern der Bewohner auf, die nur die Pflegekräfte verwenden – vom Einmalhandschuh bis zur Kanüle. Artner nennt sie „institutionalisierte Dinge“. „Es gibt Dinge, die bedeutsam für die Persönlichkeit sind, und Hilfsmittel, die sind funktionell.“ Und so liegen in den privaten Bewohnerzimmern in Pflegeheimen Familienfotografien, Kosmetika und Briefe neben sterilen Einmalhandschuhen, die nach dem Gebrauch entsorgt werden, und Stäbchen aus Schaumstoff, Watte oder Holz, die das Kauen anregen sollen. Was aber machen solche Gegenstände, wenn sie so prägnant sind im Lebensraum?
„Sie wandeln das private Zimmer der Bewohner in einen Raum der Pflege. Die Trennung von persönlichen Räumen und der Institution Pflegeheim wird auf der Ebene der Dinge aufgehoben“, sagt Artner.
Viele Dinge werden mehrzweckmäßig, kreativ und anders als vom Hersteller angedacht verwendet. Ein Beispiel aus der Region Hannover: Der Toilettenstuhl gibt Sicherheit, so Artner. „Er wird aber auch zum Duschen und zum Transport genutzt. Eine ältere Dame guckt da Fernsehen drauf, statt auf einem Sessel.“ Man braucht Vertrauen in Technik, resümiert die Wissenschaftlerin. „Auch Ältere wollen sich wohl fühlen, wenn sie da in einem Lifter hängen.“ Ob es auch nutzlose Dinge gibt im Pflegealltag? Manche Utensilien, sagt Artner, finden erst mit der Zeit Anwendung. „In einem Pflegeheim wurde der Hebelifter kaum genutzt. Man hängt von der Decke, wird in die Badewanne gehievt. Für viele Menschen ist das ungewohnt, man fühlt sich zunächst unsicher.“
Die Hildesheimer Wissenschaftlerin interessiert sich auch für Veränderungen im Wandel der Zeit. Artner spricht deshalb mit Pflegekräften, die in den 1960er Jahren gearbeitet haben, sie untersucht Schwesternakten und Lehrbucheinträge. Dabei wurde deutlich: In der Pflege wurden und werden Veränderungen auf dinglicher Ebene zunächst einmal auf ihre ‚Praxistauglichkeit‘ geprüft. Als in den 1970er Jahren die Einmalhandschuhe ihren Weg in den Pflegealltag fanden, wurde diese Entwicklung kritisch begleitet. „Die Handschuhe sind hygienisch. Ich habe aber so eine Distanz zu den Pflegenden. Ich möchte die Nähe nicht verlieren“, sagte etwa eine Pflegerin aus der damaligen Zeit.
Die Wissenschaftlerin forscht in einem sensiblen, intimen Bereich. „Ich kläre von Anfang an auf, was ich mache und warum, ich spreche viel mit Angehörigen von Demenzerkrankten.“ Mit den Objekten, sagt Artner, „kann man nicht reden“. Es sind die Menschen, die ihr erzählen und zeigen, was die Dinge im Alltag machen und die Einblicke geben in ihr Leben mit den Dingen. Und dafür, für all diese Begegnungen, ist die junge Forscherin sehr dankbar.
Worum geht’s?
Kurz erklärt: Das Forschungsprojekt „Die Pflege der Dinge“ – Ausblick
Lucia Artner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Die Pflege der Dinge – Die Bedeutung von Objekten in Geschichte und gegenwärtiger Praxis der Pflege“ (kurz: „Pflegedinge“ www.pflegederdinge.de). In dem Forschungsprojekt arbeiten neun Fachleute des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité, der Arbeitsgruppe Pflegewissenschaft der Universität Osnabrück und des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim zusammen. Zum Team gehört auch der Hildesheimer Professor Wolfgang Schröer. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert die Forschung von 2014 bis 2017.
Ob im Krankenhaus, im Pflegeheim oder zu Hause – im Bereich Pflege und Care kommen ganz unterschiedliche Dinge zum Einsatz: Neben Bettpfanne oder Einmalhandschuhe, Beatmungsgerät oder Hebelifter kann das auch ein persönlicher Gegenstand wie eine Handtasche sein. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe untersucht diese und weitere Dinge der Pflege. Ergebnisse aus der Forschung stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen der internationalen Tagung „Dumme Dinge, schlaue Sachen?“ vom 18. bis 20. Januar 2017 in Heidelberg vor. Derzeit plant die Arbeitsgruppe auch eine Ausstellung, um die Erkenntnisse aus der Forschung der Öffentlichkeit vorzustellen.
Mit einem Fokus auf materielle Objekte eröffnet das Projekt neue Sichtweisen auf das Feld der Pflege. Ausgangs- und Endpunkt der Untersuchung sind konkrete Gegenstände in der Altenpflege, in Privathaushalten und Krankenhäusern in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Berlin. Gegenstand der Forschung sind sowohl neue technische Geräte, die registrieren, wie sich Personen bewegen und im Notfall Alarm schlagen („Ambient Assisted Living“) als auch der vermeintlich triviale Waschlappen. „Bislang fehlt es in Deutschland an grundlagenorientierter Forschung über die materiale Seite von Pflege. Fragen danach, welchen Anteil Dinge wie ein Fieberthermometer an der Pflege haben, wie damit Pflege-Arbeit strukturiert und das Wissen der Pflege realisiert wird, wurde im Bereich der historischen und gegenwärtigen Pflegeforschung bisher nicht untersucht“, sagt Lucia Artner.
Die Forschergruppe untersucht bis 2017 die Bedeutungen, die den Dingen gegeben werden und die Art, wie sie in pflegerische Tätigkeiten eingebettet sind, die konkrete Materialität der Dinge, ihre Wechselwirkungen mit Räumen und Körpern sowie die gesellschaftlichen Diskurse, in die sie eingebunden sind. Erst dieser breite Blick auf die dreidimensionalen Objekte macht die Vielschichtigkeit und Komplexität von Pflege als zentrale menschliche Praxis nachvollziehbar.
Quelle: Uni Hildesheim