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Zeitzeugen im Geschichtsunterricht – Spaß oder Nutzen?

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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen untersuchten Effekte von „Oral History“ in der Schule

Die Arbeit mit Zeitzeugen im Geschichtsunterricht ist in den Bildungsplänen aller Bundesländer fest verankert. Zeitzeugen können authentisch über Ereignisse aus ihrem Leben berichten, die die Schülerinnen und Schüler mehr berühren als bloße Texte im Schulbuch. Zudem erhofft man sich, dass sie durch eigenständige Arbeit mit Zeitzeugen lernen, wie Historiker zu arbeiten und beispielsweise Quellen kritisch zu hinterfragen. Doch es gibt auch Kritik an dieser Methode. Zum einen ist Erinnerung ein rekonstruktiver Prozess, der durch viele Faktoren beeinflusst wird. So können individuelle Erinnerungen durch das soziale Umfeld und nachträgliche Informationen verzerrt und verklärt werden. Zum anderen kann die Aura und Authentizität der Zeitzeugen dazu führen, dass ihre Aussagen nicht hinterfragt werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen haben nun in einer Studie herausgefunden, dass das Lernen mit lebendigen Zeitzeugen im Vergleich zur Arbeit mit einem Video oder einer Transkription eines Zeitzeugeninterviews den Schülerinnen und Schülern zwar deutlich mehr Spaß macht, aber die Gefahr besteht, dass sie weniger dabei lernen. Die Studie wird im American Educational Research Journal veröffentlicht und ist bereits online erschienen.

Quelle : moerschy / Pixabay

Welche Effekte die Arbeit mit Zeitzeugen auf die Schülerinnen und Schüler hat, hierzu gibt es nur wenige Studien. Ziel der Tübinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war es deshalb, zu untersuchen, ob und wie durch die Arbeit mit Zeitzeugen Kompetenzen historischen Denkens gefördert werden können. Für die Studie arbeiteten 900 Schülerinnen und Schüler aus 30 Klassen in einer Unterrichtseinheit zum Thema „Friedliche Revolution in der DDR“ mit Zeitzeugen. Erklärtes Ziel der Unterrichtseinheit war es, die Voraussetzungen unseres Wissens über die Vergangenheit offen zu legen, zum Beispiel die unterschiedlichen Blickwinkel von Zeitzeugen auf die Geschehnisse in der Vergangenheit. Ein Teil der Klassen arbeitete dabei mit Zeitzeugen, die im Unterricht anwesend waren und befragt wurden, ein Teil mit einer Videoaufzeichnung und ein weiterer Teil der Klassen mit der Transkription eines Zeitzeugeninterviews. Zusätzlich gab es fünf Kontrollklassen, die ihren „normalen“ Geschichtsunterricht zu einem anderen Thema erhielten.

Den Unterricht mit den Zeitzeugen – live, mit Video und mit der Transkription – führte jeweils dieselbe externe Lehrkraft durch, um gleiche Bedingungen sicherzustellen. Vier Zeitzeugen, die den Mauerfall und die Wende mit Anfang 20 als aktive Oppositionelle erlebt hatten, berichteten über ihre politischen Aktivitäten, die Demonstrationen gegen das damalige Regime und die Kontrolle und Unterdrückung durch das sozialistische System. Von denselben vier Zeitzeugen standen auch Videos und Transkriptionen zur Verfügung (https://www.jugendopposition.de), in denen sie ebenfalls über diese Themen berichteten. Die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler zum Thema DDR, ihr Verständnis der Grundlagen historischer Erkenntnis und ihre Einschätzung der Unterrichtseinheit wurden unmittelbar vor und nach der Unterrichtseinheit sowie zwei bis drei Monate später erhoben.

Im Vergleich zur Kontrollgruppe schnitten alle Klassen, die in verschiedener Form mit Zeitzeugen arbeiteten, besser ab: Sie zeigten eine höhere historische Kompetenz und verfügten über mehr Faktenwissen. Jedoch gab es Unterschiede hinsichtlich der Art, mit den Zeitzeugen zu arbeiten. Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die den Zeitzeugen live erlebt hatten, schätzten ihren Lernerfolg wie auch ihr Interesse an der Unterrichtseinheit deutlich höher ein als diejenigen, die mit den Video- und Text-Zeitzeugenberichten gearbeitet hatten. Tatsächlich hatten sie das Ziel des Unterrichts jedoch weniger gut erreicht: Im Hinblick auf ihre Einsicht in die Grundlagen der historischen Erkenntnis schnitten sie schlechter ab. Die Perspektivität des Zeitzeugen wie auch die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit Erzählungen über die Vergangenheit hatten sie weniger gut verstanden als die Video- und die Textgruppe.

Das Ergebnis der Studie könnte auf die in der wissenschaftlichen Literatur häufig diskutierte ‚Aura der Authentizität‘ zurückzuführen sein. „Dass die Zeitzeugen die Vergangenheit leibhaftig miterlebt haben, macht sie so glaubwürdig, dass es den Schülerinnen und Schülern, die sie live erleben, schwerer fällt, die für einen kritischen Umgang notwendige Distanz zu ihren Erzählungen aufzubauen“, erklärt Christiane Bertram, Erstautorin der Studie, die inzwischen über Fachdidaktik in den Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz lehrt und forscht. „Sie sind vielleicht so beeindruckt von den Personen und den mündlichen Erzählungen, dass sie deshalb auch ihren Lernerfolg überschätzen“, so Bertram weiter. Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern empfiehlt sie, die motivationalen Potenziale von Zeitzeugenbefragungen zu nutzen und der Gefahr der möglichen „Überwältigung“ durch gründliche Vor- und Nachbereitung des Unterrichts zu begegnen. „Die Studie ist ein gutes Beispiel dafür, dass innovative und interessante Unterrichtsangebote wissenschaftlich auf Herz und Nieren geprüft werden sollten, um ihr Potenzial besser zu verstehen und gegebenenfalls ihre Wirkung zu erhöhen“, betont Ulrich Trautwein, Leiter des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung. Das Zusammenspiel von Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht sollte in weiteren Studien untersucht werden.

Quelle : Universität Konstanz

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